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Sprache ist ein
"funktionelles Endprodukt" und als solches abhängig von kritischen
Vorentwicklungen. Von herausragender Bedeutung unter diesen Vorleistungen
scheint die Entwicklung der "Senso-Motorik" zu sein mit sensitiven
Reifungsperioden wesentlich im 1. Lebensjahr. Nur unter Beachtung solcher
kritischen Entwicklungsphasen für Diagnostik, Therapie und Frühförderung
lassen sich Entwicklungsstörungen individuell-optimal beeinflussen. Für
angeborene Hörstörungen ist bspw. eine annähernd normale bzw. der
individuellen Intelligenz entsprechende Sprachentwicklung nachweislich nur zu
erwarten bei Diagnostik und Therapieeinleitung bis zum 6. Lebensmonat.
Eine ebenso hohe
Bedeutung nicht nur für die Sprachentwicklung, sondern auch für die gesamte
kindliche Entwicklung scheint die taktil-kinästhetische (somatosensorische)
Sinnesmodalität zu haben. Passive und aktive Berührung spielen bereits
intrauterin eine führende Rolle in der Entwicklung von senso-motorischen Fähigkeiten. Dieses
Sinnessystem dominiert auch postnatal als "Nahsinn" über die
"Fernsinne" Sehen und Hören in der kognitiven Aneignung der Umwelt
und ist offenbar entscheidend für die Normalität der intermodalen und
serialen Wahrnehmungsentwicklung. Defizite in der taktil-kinästhetischen
Entwicklung treten vermutlich weitaus häufiger auf als Seh- und Hörstörungen,
werden aber als spezifische Sinnesstörung noch ungleich seltener
diagnostiziert.
Doch auch
der Diagnostik taktil-kinästhetischer Wahrnehmungsstörungen im jungen
Kindesalter wird noch zu wenig Beachtung geschenkt. Dabei ist die hohe Anzahl
von Kindern mit diffus als Störungen der "senso-motorischen
Integration" bezeichneten Entwicklungsauffälligkeiten seit langem bekannt.
Sie zählen zu den häufigsten Therapieindikationen, u. a. bei
sprachentwicklungsgestörten Kindern. Die taktil-kinästhetische Sinnesfunktion
darf aus
vielfältiger klinischer Evidenz
als eine basale,
entwicklungskritische Voraussetzung des Spracherwerbs betrachtet werden.
Die funktionale
Bedeutung insbesondere der präverbalen Sprachentwicklung des 1.
Lebensjahres wird für eine rechtzeitige Frühdiagnostik von
Wahrnehmungsstörungen noch weithin unterschätzt. Deren Kenntnis stellt
das beste Raster dar zur frühstmöglichen Beobachtung von Abweichungen, rechtzeitigem
diagnostischen Handeln und hierüber auch zur Modellierung von
Forschungsansätzen. So wäre bspw. ein verzögerter Beginn der
"Lallphase" (Babbling) bei intakter intraoraler Motorik ein deutlicher Hinweis
auf eine eventuelle taktil-kinästhetische Wahrnehmungsproblematik, zumal in
der Kombination mit postnatalen Schluck- und Ernährungsstörungen.
Generell
scheint nach PIAGET und AFFOLTER der Säugling seine Auseinandersetzung mit der
Umwelt primär oder zumindest vorrangig mittels der taktil-kinästhetischen
"Wahr-Nehmung" zu triggern. Über Greifen, Tasten und ähnliche
Manipulationen erhält er Informationen, die als frühe interaktive
Handlungserfahrungen verinnerlicht und später versprachlicht werden. Demnach
wäre die Entwicklung intakter sensomotorischer Schemata notwendige
Voraussetzung zur Symbolkonstitution.
Die wissenschaftliche Bearbeitung der
Physiologie und Pathologie taktil-kinästhetischer Leistungen im frühen
Kindesalter führt national wie international eher ein Schattendasein.
Taktil-kinästhetische Leistungen für Erwerb und Gebrauch von sprachlichen
Symbolfunktionen wurden bislang noch nicht untersucht.
Die
folgenden bibliographischen Quellen dokumentieren Überlegungen,
Modellvorstellungen, Vorarbeiten sowie Ergebnisse von Querschnittstudien zum
hiesigen Arbeitsschwerpunkt "Taktil-Kinästhetik". Zielsetzung ist die
Frühdiagnose und Frühtherapie von sprachentwicklungsgefährdeten
Kindern über Definition und Erkennung taktil-kinästhetischer
Entwicklungsdevianzen in der Erwartung, dann auch effektiverer
Interventionsmöglichkeiten zu erhalten, wie dies für angeborene Hörstörungen
bereits eindrucksvoll realisierbar und belegbar ist.

Originalarbeiten Poster Bücher/Diagnostica/Buchbeiträge
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von Killisch-Horn: Heidelberg 2001, S. 159-161. Ausgezeichnet mit dem
Posterpreis der DGPP.
Download als Grafik (GIF, 281 KB),
als PDF-Datei
(50 KB)
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Göttingen:
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Basel Boston Berlin: Birkhäuser Verlag, S. 109-124.
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Ausgezeichnet
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Kommentar
zur Rezension des Göttinger Entwicklungstests der Taktil-Kinästhetischen
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Report Psychologie 30, S. 66
http://www.testzentrale.de
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Diplom-Arbeit für den Studiengang Psychologie an der
Georg-August-Universität Göttingen, Fachbereich Psychologie
(1996)
Jasmin
Höch: Item-Analyse einer Aufgabensammlung zur Überprüfung des
Entwicklungsstandes der
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Wahrnehmung unter
Berücksichtigung klinischer Anwendungsfelder am Beispiel der
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Diplom-Arbeit für den Studiengang Psychologie an der
Georg-August-Universität Göttingen, Fachbereich Psychologie
(1997)
Sabine
Wilke: Itemanalyse einer Aufgabensammlung der taktil-kinästhetischen
Wahrnehmung im Kindergartenalter.
Diplom-Arbeit für den Studiengang Psychologie an der
Georg-August-Universität Göttingen, Fachbereich Psychologie
(1999)
Jens
Niemann: Wahrnehmung und Arbeitsgedächtnisleistungen.
Entwicklungspsychologische Analysen von Kindern im
Alter von 3;6 bis 6;0.
Diplom-Arbeit für den Studiengang Psychologie an der
Georg-August-Universität Göttingen, Fachbereich Psychologie
(2000)
Britta Götze: Zur Rolle von phonologischem Arbeitsgedächtnis und haptischer
Wahrnehmung in der Sprachentwicklung.
Diplom-Arbeit für den Studiengang Psychologie an der
Georg-August-Universität Göttingen, Fachbereich Psychologie
(2008)
Katja Maaß: Taktil-Kinästhetische Responsivität im Kindesalter:
Eine gruppenvergleichende Studie.
|
Süddeutsche Zeitung WISSEN Freitag, 30.
Januar 2004
Ausgabe: Deutschland Seite 11 / Bayern Seite 11 / München Seite 11
A019.008.656 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH,
München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
von Christopher Schrader

Berührungen für das Leben
Ohne den Tastsinn könnte der Mensch nicht existieren
Der Kerl
sieht aus wie eine Mischung aus Mick Jagger und Mohammed Ali - wie
Karikaturisten sie sehen. Er hat einen großen Kopf mit wulstigen Lippen und
Hände wie Abrissbirnen. Der Rest des Körpers ist schmächtig, die Arme sind
dünner als die Daumen, die Füße kaum so groß wie die Ohren. Bemerkenswert ist
nur das Geschlechtsteil: Die Proportionen des Penis scheinen einem
schlüpfrigen Cartoon entnommen zu sein. Doch der Homunculus, wie das Männchen
gern genannt wird, ist keine Witzfigur. Man findet ihn in Lehrbüchern der
Sinnesphysiologie; auch das Nürnberger Museum "Turm der Sinne"
zeigt ihn demnächst als lebensgroßes Symbol für den Tastsinn. "Seine
Hände sind fast so groß, dass man sich hineinsetzen könnte", sagt die
Museumsdirektorin Elisabeth Limmer. Der eigenartige Körperbau zeigt die
Prioritäten der Wahrnehmung: Je größer ein Körperteil des Homunculus
dargestellt ist, desto sensibler ist der Mensch dort, desto mehr Nervenzellen
im Gehirn verarbeiten die Wahrnehmung. Eigentlich ist der ganze Körper das Sinesorgan
für den Tastsinn: Anderthalb bis zwei Quadratmeter Haut enthalten Millionen
von Sensoren für Druck, Temperatur und Schmerz; in jedem Gelenk registrieren
Fühler, wie stark es gebeugt ist, Muskeln und Sehnen erfassen ihre eigene
Anspannung. Aber Lippen, Hände und Geschlechtsorgane, das zeigt der
Homunculus, sind besonders empfindlich. Dennoch ist das Tasten ein
vernachlässigter Sinn. Seit Jahrhunderten wird es als niedere Wahrnehmung
betrachtet. Der Natur als "Nahsinn" entsprechend taugt die taktile
Wahrnehmung kaum für die Erkundung der großen Welt, für tiefere Einsicht oder
effektive Kommunikation. Der Verbindung zu Genuss und Sexualität hat das
christlich geprägte Abendland von jeher misstraut. Noch heute gibt es kaum
einen Wirtschaftszweig, der seine Produkte auf Fingerspitzen zuschneidet: Es
gibt kein Äquivalent zu Gemälde oder Konzert, weder Schokolade noch Parfum
für den Tastsinn. Allenfalls die Wellness-Industrie nutzt mit ihren
Massage-Angeboten die Marktlücke. Doch wer mit Forschern spricht, erkennt
schnell die zentrale Bedeutung, die der Tastsinn für die Entwicklung des
Menschen und das ganze Leben besitzt. Da ist zum Beispiel Martin Grunwald.
Der Psychologe von der Universität Leipzig glaubt, dass die lebensbedrohliche
Magersucht junger Mädchen und Frauen mit einer Störung des Tastsinns
einhergeht. "Diese Patienten haben ein gestörtes Körperbild - sie fühlen
sich fett und aufgedunsen. Und wenn sie ersuchen, Formen mit geschlossenen
Augen zu ertasten, versagen sie." Beide Wahrnehmungen, sagt Grunwald,
werden im selben Zentrum im rechten Gehirn verarbeitet, die Magersüchtigen
hätten dort ein mit dem EEG, also in den Hirnstromwellen, erkennbares
funktionelles Defizit. Darum hat Grunwald im vergangenen Jahr eine betroffene
Studentin mit einem Neoprenanzug "behandelt". Dreimal am Tag, 15
Wochen lang, zwängte sich die junge Frau in den engen Dress, jeweils eine
Stunde lang hat die Kunststoffhülle dann gegen die Haut gedrückt Am Ende
zeigten die EEG-Wellen deutlich mehr Aktivität, "und auch das Gewicht
ging nach oben", sagt Grunwald. Er erwartet nicht, dass die Frau nun
geheilt sei: "Sie war 14 Jahre krank, das dreht man nicht in vier
Monaten zurück. Aber es ist ein Hinweis, dass die Idee richtig ist." Was
im Gehirn der jungen Frau passiert sein könnte, zeigt auch die Arbeit von
Hubert Dinse. Der Forscher von der Universität Bochum schnallt seinen
Versuchspersonen kleine Lautsprecher auf die Fingerkuppen. Die Membran drückt
etwa einmal pro Sekunde sanft auf die Haut, und innerhalb von drei Stunden werden
die Probanden feinfühliger. "Die Fähigkeit, zwei nebeneinander liegende
Spitzen beim Tasten auseinander zu halten, nimmt um 15 bis 20 Prozent
zu", erzählt Dinse, "von einem durchschnittlichen Mindestabstand
von 1,5 Millimeter auf etwa 1,2 Millimeter." Diese Änderung der
Sensibilität korrespondiere mit einer Zunahme des zuständigen Bereichs in der
Großhirnrinde, wie Kernspin-Bilder belegten. "Das Areal der Fingerkuppe,
also quasi der Finger des Homunculus, wird größer - umso größer, je mehr sich
das Tastvermögen der Versuchsperson verbessert", sagt Dinse. Der Effekt
hält nur einen Tag an, der Bochumer Forscher sucht daher nach Mitteln, die
Veränderung zu stabilisieren. Interessant wäre das vor allem für alte
Menschen, deren Tastsinn nachlässt. Sie können oft nicht einmal Spitzen
unterscheiden, die drei Millimeter auseinander stehen. Eine bessere
Wahrnehmung könnte ihnen zum Beispiel helfen, Hemden oder Blusen zuzuknöpfen.
Denn diese Fähigkeit beruht nicht nur auf der Motorik - die Muskeln in den
Finger brauchen die ständige Rückmeldung des Tastsinns. "Wenn sie einem
jungen Menschen die Fingerkuppen betäuben, bringt der keinen Knopf mehr
zu", sagt Dinse. Die Verbesserung der Sensibilität hat aber Grenzen, so
der Bochumer Forscher: "Für Sehende ist es zum Beispiel extrem schwer,
ihren Tastsinn so zu schulen, dass sie Braille lesen können" - die
Buchstaben der Blindenschrift bestehen aus erhabenen Punkten. Wenn jemand
erblindet, kann der Tastsinn nicht mehr genutzte visuelle Areale im Gehirn
übernehmen; bei Geburtsblinden vermag das Nervenzentrum sogar den primären
visuellen Kortex umzuwidmen, wo sonst die Sehnerven Bilder ins Hirn speisen.
Eine zentrale Bedeutung hat die taktile Wahrnehmung auch bei Neugeborenen,
ihr Überleben und womöglich die intellektuelle Entwicklung hängen davon ab.
"Babys kommunizieren zunächst vor allem über die Haut, erfahren so
Geborgenheit und Trost", sagt Christiane Kiese-Himmel von der
Universität Göttingen. Fehlen die liebevollen Berührungen, können Kinder
daran sterben. Zudem nimmt die Forscherin an, dass Babys mit den Eindrücken,
die beim Betasten oder Ablutschen von Spielzeug entstehen, die Basis für
abstrakte Konzepte und innere Bilder legen - und damit die Grundlage der
Sprachentwicklung. Auch wenn Kiese-Himmel einräumt, dass ihre These noch
nicht bewiesen sei, sprechen viele Indizien dafür. So weist zum Beispiel der
Züricher Intelligenzforscher Rolf Pfeiffer darauf hin, dass Babys durch ihre
größere Muskelanspannung fast jeden Gegenstand, den sie erwischen, in
Richtung Mund bewegen. Dort liefern dann sowohl Hände als auch Lippen und
Zunge Eindrücke, die das Gehirn zum Gesamtbild zusammensetzt. Die Bedeutung
des Tastsinns für die intellektuelle Entwicklung belegen auch die Versuche
der französischen Forscher Edouard Gentaz und Pascale Colé. Sie haben
Fünfjährige darin trainiert, die Buchstaben a, i, r, t, p und b zu erkennen.
Durften die Kinder die Buchstaben nicht nur ansehen, sondern auch
Reliefmodelle von ihnen anfassen, lernten sie in der gleichen Zeit doppelt so
viele Phantasiewörter wie "ita" oder "ari" zu lesen. Erst
seit kurzem findet die Erforschung des Tastsinns auch das Interesse von
Technikern: Designer verstehen, dass die Fingerspitzen etwa beim Autokauf
mitreden. Entwickler ferngesteuerter Maschinen erkennen, dass sie den
Menschen ein "Gefühl" dafür geben müssen, was sie auslösen - der
Bagger oder das Skalpell müssen der Hand am Kontrollhebel zurückmelden, wenn
sie auf Widerstand stoßen. Und Sicherheits-Experten glauben, sie könnten -
etwa im Cockpit eines Flugzeugs - zuverlässig die Aufmerksamkeit des Piloten
erringen, wenn sie etwas an seiner Hand oder in seinem Nacken vibrieren
lassen. Der Tastsinn, so die gemeinsame Basis all dieser Ideen, eröffnet in
der reizüberfluteten Welt einen Kommunikationskanal zum Hirn, der noch nicht
verstopft ist.
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21.11.2023
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