4. Taktil-Kinästhetik (Somatosensorik) als Voraussetzung der normalen Sprachentwicklung/Taktil-kinästhetische Diagnostik / Tactile-kinesthetic functions as a precondition of language development / tactile-kinesthetic diagnostics

 

 


 

 

Sprache ist ein "funktionelles Endprodukt" und als solches abhängig von kritischen Vorentwicklungen. Von herausragender Bedeutung unter diesen Vorleistungen scheint die Entwicklung der "Senso-Motorik" zu sein mit sensitiven Reifungsperioden wesentlich im 1. Lebensjahr. Nur unter Beachtung solcher kritischen Entwicklungsphasen für Diagnostik, Therapie und Frühförderung lassen sich Entwicklungsstörungen individuell-optimal beeinflussen. Für angeborene Hörstörungen ist bspw. eine annähernd normale bzw. der individuellen Intelligenz entsprechende Sprachentwicklung nachweislich nur zu erwarten bei Diagnostik und Therapieeinleitung bis zum 6. Lebensmonat.

Eine ebenso hohe Bedeutung nicht nur für die Sprachentwicklung, sondern auch für die gesamte kindliche Entwicklung scheint die taktil-kinästhetische (somatosensorische) Sinnesmodalität zu haben. Passive und aktive Berührung spielen bereits intrauterin eine führende Rolle in der Entwicklung von senso-motorischen Fähigkeiten. Dieses Sinnessystem dominiert auch postnatal als "Nahsinn" über die "Fernsinne" Sehen und Hören in der kognitiven Aneignung der Umwelt und ist offenbar entscheidend für die Normalität der intermodalen und serialen Wahrnehmungsentwicklung. Defizite in der taktil-kinästhetischen Entwicklung treten vermutlich weitaus häufiger auf als Seh- und Hörstörungen, werden aber als spezifische Sinnesstörung noch ungleich seltener diagnostiziert.

Doch auch der Diagnostik taktil-kinästhetischer Wahrnehmungsstörungen im jungen Kindesalter wird noch zu wenig Beachtung geschenkt. Dabei ist die hohe Anzahl von Kindern mit diffus als Störungen der "senso-motorischen Integration" bezeichneten Entwicklungsauffälligkeiten seit langem bekannt. Sie zählen zu den häufigsten Therapieindikationen, u. a. bei sprachentwicklungsgestörten Kindern. Die taktil-kinästhetische Sinnesfunktion darf  aus vielfältiger klinischer Evidenz als eine basale, entwicklungskritische Voraussetzung des Spracherwerbs betrachtet werden.

Die funktionale Bedeutung insbesondere der präverbalen Sprachentwicklung des 1. Lebensjahres wird für eine rechtzeitige Frühdiagnostik von Wahrnehmungsstörungen noch weithin unterschätzt. Deren Kenntnis stellt das beste Raster dar zur frühstmöglichen Beobachtung von Abweichungen, rechtzeitigem diagnostischen Handeln und hierüber auch zur Modellierung von Forschungsansätzen. So wäre bspw. ein verzögerter Beginn der "Lallphase" (Babbling) bei intakter intraoraler Motorik ein deutlicher Hinweis auf eine eventuelle taktil-kinästhetische Wahrnehmungsproblematik, zumal in der Kombination mit postnatalen Schluck- und Ernährungsstörungen.

Generell scheint nach PIAGET und AFFOLTER der Säugling seine Auseinandersetzung mit der Umwelt primär oder zumindest vorrangig mittels der taktil-kinästhetischen "Wahr-Nehmung" zu triggern. Über Greifen, Tasten und ähnliche Manipulationen erhält er Informationen, die als frühe interaktive Handlungserfahrungen verinnerlicht und später versprachlicht werden. Demnach wäre die Entwicklung intakter sensomotorischer Schemata notwendige Voraussetzung zur Symbolkonstitution.

Die wissenschaftliche Bearbeitung der Physiologie und Pathologie taktil-kinästhetischer Leistungen im frühen Kindesalter führt national wie international eher ein Schattendasein. Taktil-kinästhetische Leistungen für Erwerb und Gebrauch von sprachlichen Symbolfunktionen wurden bislang noch nicht untersucht.

Die folgenden bibliographischen Quellen dokumentieren Überlegungen, Modellvorstellungen, Vorarbeiten sowie Ergebnisse von Querschnittstudien zum hiesigen Arbeitsschwerpunkt "Taktil-Kinästhetik". Zielsetzung ist die Frühdiagnose und Frühtherapie von sprachentwicklungsgefährdeten Kindern über Definition und Erkennung taktil-kinästhetischer Entwicklungsdevianzen in der Erwartung, dann auch effektiverer Interventionsmöglichkeiten zu erhalten, wie dies für angeborene Hörstörungen bereits eindrucksvoll realisierbar und belegbar ist.

Originalarbeiten Poster Bücher/Diagnostica/Buchbeiträge

Originalarbeiten / Journal Articles

  1. Kiese-Himmel, C & Poinstingl H (2018).
    Psychometrische Kennwerte zum Subtest "Graphästhesie" aus dem Göttinger Entwicklungstest der Taktil-Kinästhetischen Wahrnehmung (TAKIWA). Eine empirische Untersuchung an einer aktuellen Stichprobe.

    Ergoscience 13(2), 66-72.   2018_TAKIWA.pdf
     

  2. Kiese-Himmel, C, Witte, C. & von Steinbüchel, N. (2015).
    Graphästhesie und Sprachleistungen bei 3- bis 6-Jährigen mit Migrationshintergrund.
    Praxis Sprache 60(3), 148-154.

     
  3. Kiese-Himmel, C. (2007). Die Bedeutung der taktil-kinästhetischen Sinnesmodalität für die Sprachentwicklung.
    Forum Logopädie 21, 26-29.
     
  4. Kiese-Himmel, C. (2005).
    Taktil-Kinästhetik. Eine funktionale Grundlage der Sprachentwicklung?
    L.O.G.O.S. Interdisziplinär. Fachzeitschrift für Logopädie und andere kommunikationstherapeutische und benachbarte Gebiete 13, 202-211.
     
  5. Debuschewitz, A., Winkler, U., Günther, T.& Kiese-Himmel, C. (2004).
    Die Bedeutung der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung bei Kindern mit Aussprachestörungen.
    Sprache-Stimme-Gehör 28, 171-177.
     
  6. Götze, B., Kiese-Himmel, C. & Hasselhorn, M. (2001).
    Haptische Wahrnehmungs- und Sprachentwicklungsleistungen bei Kindergarten- und Vorschulkindern.
    Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychatrie 50, 640-648.
     
  7. Wilke, S. & Kiese-Himmel, C. (1999).
    Göttinger Entwicklungstest der Taktil-Kinästhetischen Wahrnehmung (TAKIWA).
    Heilpädagogische Forschung XXV, 140-148.
     
  8. Kiese-Himmel, C. & Schiebusch-Reiter, U. (1999).
    Haptische Formdiskrimination: Gruppenvergleich von sprachunauffälligen und ehemals sprachentwicklungsgestörten Kindern.
    HNO 47, 45-50.
     
  9. Kiese-Himmel, C. & Kruse, E. (1998).
    Höhere taktile und kinästhetische Funktionen bei ehemals sprech-/sprachentwicklungsgestörten Kindern: Eine neuropsychologische Studie.
    Folia Phoniatrica et Logopaedica (Schweiz) 50, 195-204.
     
  10. Kiese-Himmel, C., Höch, J. & Liebeck, H. (1998).
    Psychologische Messung taktil-kinästhetischer Wahrnehmung im frühen Kindesalter.
    Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 47, 217-228.
     
  11. Niehaus, H.H., Kiese-Himmel, C. & Kruse, E. (1997).
    Die Vestibularisfunktion: eine Voraussetzung zur regelrechten Sprachentwicklung?
    Laryngo-Rhino-Otologie 76, 528-533.
     
  12. Höch, J. & Kiese-Himmel, C. (1996).
    Entwicklungstestung der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung. Erste Ergebnisse.
    Frühförderung interdisziplinär 15, 110-115.
     
  13. Kiese-Himmel, C. & Schiebusch-Reiter, U. (1995).
    Taktil-kinästhetisches Erkennen bei sprachentwicklungsgestörten Kindern - Erste empirische Ergebnisse.
    Sprache und Kognition 14, 126-137.
     
  14. Kiese-Himmel, C., Schiebusch-Reiter, U. & Kruse, E. (1995).
    Taktil-kinästhetische Wahrnehmung - Ein Zugang in der Diagnostik spezifisch sprachentwicklungsgestörter Kinder?
    Pädiatrie und Grenzgebiete 34, 135-144.
     
  15. Kiese-Himmel, C. & Kruse, E. (1994).
    Haptische Exploration im 1. Lebensjahr. Ein Schlüssel zum Verständnis abweichender Sprachentwicklung im frühen Kindesalter?
    Kindheit und Entwicklung 3, 94-100.
     
  16. Kiese-Himmel, C. & Schiebusch-Reiter, U. (1993).
    Hat die taktil-kinästhetische Wahrnehmung Bedeutung für die psychologische Sprachentwicklungsforschung?
    Schweizerische Zeitschrift für Psychologie 52, 181-192.

Poster

  1. Kiese-Himmel, C. & Maaß, K. (2009).
    Über Zungenfertigkeiten hinaus: Taktil-kinästhetische Responsivität bei sprachentwicklungsgestörten Kindern und Kindern mit entwicklungsbedingten Artikulationsstörungen.
    26. Wiss. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), vom 11.-13. September, Leipzig.
    In Gross, M. & Am Zehnhoff-Dinnesen, A. (Hrsg.): Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2009. Bd. 17. Mönchengladbach: Rhineware Verlag 2009, S. 172-174.
  2. Kiese-Himmel, C. & Maaß, K. (2009).
    Taktil-kinästhetische Responsivität bei autistischen Kindern. Ein empirischer Validitätsbeitrag zum Diagnostischen Elternfragebogen zur Taktil-Kinästhetischen Responsivität (DEF-TK).
    76. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sprach- und Stimmheilkunde vom 26.-29. März 2009, Bochum
  3. Kiese-Himmel, C., Reeh, M. & Maaß, K. (2008).
    Hautnah - taktil-kinästhetische Responsivität im Kindesalter.
    25. Wiss. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie- und Pädaudiologie, Düsseldorf.
    In Gross, M. & Am Zehnhoff-Dinnesen, A. (Hrsg.): Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2008. Bd. 16. Mönchengladbach: Rhineware Verlag 2008, S. 131-134.
  4. Kiese-Himmel, C. (2000).
    Diagnostischer Elternfragebogen zur taktil-kinästhetischen Responsivität im frühen Kindesalter (DEF-TK).
    17. Wiss. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, Tübingen.
    In Gross, M. & Kruse, E. (Hrsg.): Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2000/2001. Bd. 8. Median-Verlag von Killisch-Horn: Heidelberg 2001, S. 159-161. Ausgezeichnet mit dem Posterpreis der DGPP.
    Download als Grafik (GIF, 281 KB)
    , als PDF-Datei (50 KB)
  5. Kiese-Himmel, C. (1999).
    Zur Bedeutung der Taktil-Kinästhetik für die Sprachentwicklung.
    71. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Stimm- und Sprachheilkunde, Berlin.
    In HNO 47, S. 852.
  6. Kiese-Himmel, C. & Kiefer, S. (1998).
    Taktil-kinästhetische Responsivität und handmotorische Kontrolle bei sprachentwicklungsgestörten und sprachunauffälligen Kindern.
    15. Wiss. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, Göttingen.
    In Gross, M. (Hrsg.): Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 1998/1999. Bd. 6. Median-Verlag von Killisch-Horn: Heidelberg 1999, S. 339-342.
  7. v. Wallmoden, C. & Kiese-Himmel, C. (1996).
    Haptische Diskrimination - eine Brücke zum frühen Objektwortschatzerwerb?
    40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, München.
    In Abstracts KONPro: Institut für Pädagogische Psychologie und Empirische Pädagogik, Ludwig-Maximilians-Universität München.
  8. Kiese-Himmel, C. & v. Wallmoden, C. (1996).
    Haptische Wahrnehmung im Säuglingsalter - ein Frühindikator zur Prävention von Sprachentwicklungsstörungen?
    Gemeinsamer Kongress der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie und der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie, Leipzig.
    In Brähler, E. & Schumacher, J. (Hrsg.): Psychologie und Soziologie in der Medizin. Reihe "Forschung Psychosozial". Psychosozial Verlag: Gießen, S. 89.
  9. Kiese-Himmel, C., v. Wallmoden, C. & Kruse, E. (1995).
    "Begreifen" durch Greifen.
    12. Wiss. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, Berlin.
    In Gross, M. (Hrsg.): Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 1995. Bd. 3. Renate Gross Verlag: Berlin 1996, S. 118-120.

 

 


 

 

Diagnostica / Buchbeiträge / Bücher (Diagnostic Instruments / Chapters/Books)

1.     Kiese-Himmel, C. (2008).
Haptic perception in infancy and first acquisition of object words: Developmental and clinical approach.
In M. Grunwald (ed.): Human Haptic Perception - Basics and Applications (p. 321-334). Basel, Boston, Berlin: Birkhaeuser.
 

2.   Kiese-Himmel, C. (2006).
Wahrnehmung taktiler Reize. In Handbuch der Allgemeinen Psychologie - Kognition (Bd. 5) hrsg. von J. Funke & P.A. Frensch (ISBN-Nr. 9783840918469). Göttingen: Hogrefe, S. 147-151.
 

3.     Kiese-Himmel, C. (2003).
Göttinger Entwicklungstest der TAktil-KInästhetischen WAhrnehmung (TAKIWA).
Göttingen: Beltz.
 

4.     Kiese-Himmel, C. unter Mitarbeit von S. Kiefer (2000).
Diagnostischer Elternfragebogen zur taktil-kinästhetischen Responsivität bei Kleinkindern.
Göttingen: Beltz.
 

5.     Kiese-Himmel, C. (2001).
Sprachentwicklung und haptische Wahrnehmung.
In Grunwald, M. & Beyer, L. (Hrsg.): Der bewegte Sinn. Basel Boston Berlin: Birkhäuser Verlag, S. 109-124.

 

6.     Kiese-Himmel, C. (1998).
Taktil-kinästhetische Störung. Behandlungsansätze und Förderprogramme.
Göttingen: Hogrefe.                    
Ausgezeichnet mit dem Annelie Frohn-Preis 1998.
 

        

                                                  

 

Kiese-Himmel, C. (2002).
Kommentar zum DEF-TK.
Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 34, 60-61
http://www.testzentrale.de

 

 

Kiese-Himmel, C. (2005).

Kommentar zur Rezension des Göttinger Entwicklungstests der Taktil-Kinästhetischen Wahrnehmung (TAKIWA).
Report Psychologie 30, S. 66
http://www.testzentrale.de

 


         Diplom-Arbeit für den Studiengang Psychologie an der Georg-August-Universität Göttingen, Fachbereich Psychologie
         (1996) Jasmin
Höch: Item-Analyse einer Aufgabensammlung zur Überprüfung des Entwicklungsstandes der taktil-kinästhetischen
         Wahrnehmung unter Berücksichtigung klinischer Anwendungsfelder am Beispiel der Sprachentwicklungsstörung. 

         Diplom-Arbeit für den Studiengang Psychologie an der Georg-August-Universität Göttingen, Fachbereich Psychologie
         (1997) Sabine
Wilke: Itemanalyse einer Aufgabensammlung der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung im Kindergartenalter.

        
Diplom-Arbeit für den Studiengang Psychologie an der Georg-August-Universität Göttingen, Fachbereich Psychologie
         (1999) Jens
Niemann: Wahrnehmung und Arbeitsgedächtnisleistungen. Entwicklungspsychologische Analysen von Kindern im
         Alter von 3;6 bis 6;0.

         Diplom-Arbeit für den Studiengang Psychologie an der Georg-August-Universität Göttingen, Fachbereich Psychologie
         (2000) Britta Götze
: Zur Rolle von phonologischem Arbeitsgedächtnis und haptischer Wahrnehmung in der Sprachentwicklung.

        
Diplom-Arbeit für den Studiengang Psychologie an der Georg-August-Universität Göttingen, Fachbereich Psychologie
         (2008) Katja Maaß
: Taktil-Kinästhetische Responsivität im Kindesalter: Eine gruppenvergleichende Studie.

Süddeutsche Zeitung WISSEN Freitag, 30. Januar 2004
Ausgabe: Deutschland Seite 11 / Bayern Seite 11 / München Seite 11
A019.008.656 SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
von Christopher Schrader

Berührungen für das Leben
Ohne den Tastsinn könnte der Mensch nicht existieren

Der Kerl sieht aus wie eine Mischung aus Mick Jagger und Mohammed Ali - wie Karikaturisten sie sehen. Er hat einen großen Kopf mit wulstigen Lippen und Hände wie Abrissbirnen. Der Rest des Körpers ist schmächtig, die Arme sind dünner als die Daumen, die Füße kaum so groß wie die Ohren. Bemerkenswert ist nur das Geschlechtsteil: Die Proportionen des Penis scheinen einem schlüpfrigen Cartoon entnommen zu sein. Doch der Homunculus, wie das Männchen gern genannt wird, ist keine Witzfigur. Man findet ihn in Lehrbüchern der Sinnesphysiologie; auch das Nürnberger Museum "Turm der Sinne" zeigt ihn demnächst als lebensgroßes Symbol für den Tastsinn. "Seine Hände sind fast so groß, dass man sich hineinsetzen könnte", sagt die Museumsdirektorin Elisabeth Limmer. Der eigenartige Körperbau zeigt die Prioritäten der Wahrnehmung: Je größer ein Körperteil des Homunculus dargestellt ist, desto sensibler ist der Mensch dort, desto mehr Nervenzellen im Gehirn verarbeiten die Wahrnehmung. Eigentlich ist der ganze Körper das Sinesorgan für den Tastsinn: Anderthalb bis zwei Quadratmeter Haut enthalten Millionen von Sensoren für Druck, Temperatur und Schmerz; in jedem Gelenk registrieren Fühler, wie stark es gebeugt ist, Muskeln und Sehnen erfassen ihre eigene Anspannung. Aber Lippen, Hände und Geschlechtsorgane, das zeigt der Homunculus, sind besonders empfindlich. Dennoch ist das Tasten ein vernachlässigter Sinn. Seit Jahrhunderten wird es als niedere Wahrnehmung betrachtet. Der Natur als "Nahsinn" entsprechend taugt die taktile Wahrnehmung kaum für die Erkundung der großen Welt, für tiefere Einsicht oder effektive Kommunikation. Der Verbindung zu Genuss und Sexualität hat das christlich geprägte Abendland von jeher misstraut. Noch heute gibt es kaum einen Wirtschaftszweig, der seine Produkte auf Fingerspitzen zuschneidet: Es gibt kein Äquivalent zu Gemälde oder Konzert, weder Schokolade noch Parfum für den Tastsinn. Allenfalls die Wellness-Industrie nutzt mit ihren Massage-Angeboten die Marktlücke. Doch wer mit Forschern spricht, erkennt schnell die zentrale Bedeutung, die der Tastsinn für die Entwicklung des Menschen und das ganze Leben besitzt. Da ist zum Beispiel Martin Grunwald. Der Psychologe von der Universität Leipzig glaubt, dass die lebensbedrohliche Magersucht junger Mädchen und Frauen mit einer Störung des Tastsinns einhergeht. "Diese Patienten haben ein gestörtes Körperbild - sie fühlen sich fett und aufgedunsen. Und wenn sie ersuchen, Formen mit geschlossenen Augen zu ertasten, versagen sie." Beide Wahrnehmungen, sagt Grunwald, werden im selben Zentrum im rechten Gehirn verarbeitet, die Magersüchtigen hätten dort ein mit dem EEG, also in den Hirnstromwellen, erkennbares funktionelles Defizit. Darum hat Grunwald im vergangenen Jahr eine betroffene Studentin mit einem Neoprenanzug "behandelt". Dreimal am Tag, 15 Wochen lang, zwängte sich die junge Frau in den engen Dress, jeweils eine Stunde lang hat die Kunststoffhülle dann gegen die Haut gedrückt Am Ende zeigten die EEG-Wellen deutlich mehr Aktivität, "und auch das Gewicht ging nach oben", sagt Grunwald. Er erwartet nicht, dass die Frau nun geheilt sei: "Sie war 14 Jahre krank, das dreht man nicht in vier Monaten zurück. Aber es ist ein Hinweis, dass die Idee richtig ist." Was im Gehirn der jungen Frau passiert sein könnte, zeigt auch die Arbeit von Hubert Dinse. Der Forscher von der Universität Bochum schnallt seinen Versuchspersonen kleine Lautsprecher auf die Fingerkuppen. Die Membran drückt etwa einmal pro Sekunde sanft auf die Haut, und innerhalb von drei Stunden werden die Probanden feinfühliger. "Die Fähigkeit, zwei nebeneinander liegende Spitzen beim Tasten auseinander zu halten, nimmt um 15 bis 20 Prozent zu", erzählt Dinse, "von einem durchschnittlichen Mindestabstand von 1,5 Millimeter auf etwa 1,2 Millimeter." Diese Änderung der Sensibilität korrespondiere mit einer Zunahme des zuständigen Bereichs in der Großhirnrinde, wie Kernspin-Bilder belegten. "Das Areal der Fingerkuppe, also quasi der Finger des Homunculus, wird größer - umso größer, je mehr sich das Tastvermögen der Versuchsperson verbessert", sagt Dinse. Der Effekt hält nur einen Tag an, der Bochumer Forscher sucht daher nach Mitteln, die Veränderung zu stabilisieren. Interessant wäre das vor allem für alte Menschen, deren Tastsinn nachlässt. Sie können oft nicht einmal Spitzen unterscheiden, die drei Millimeter auseinander stehen. Eine bessere Wahrnehmung könnte ihnen zum Beispiel helfen, Hemden oder Blusen zuzuknöpfen. Denn diese Fähigkeit beruht nicht nur auf der Motorik - die Muskeln in den Finger brauchen die ständige Rückmeldung des Tastsinns. "Wenn sie einem jungen Menschen die Fingerkuppen betäuben, bringt der keinen Knopf mehr zu", sagt Dinse. Die Verbesserung der Sensibilität hat aber Grenzen, so der Bochumer Forscher: "Für Sehende ist es zum Beispiel extrem schwer, ihren Tastsinn so zu schulen, dass sie Braille lesen können" - die Buchstaben der Blindenschrift bestehen aus erhabenen Punkten. Wenn jemand erblindet, kann der Tastsinn nicht mehr genutzte visuelle Areale im Gehirn übernehmen; bei Geburtsblinden vermag das Nervenzentrum sogar den primären visuellen Kortex umzuwidmen, wo sonst die Sehnerven Bilder ins Hirn speisen. Eine zentrale Bedeutung hat die taktile Wahrnehmung auch bei Neugeborenen, ihr Überleben und womöglich die intellektuelle Entwicklung hängen davon ab. "Babys kommunizieren zunächst vor allem über die Haut, erfahren so Geborgenheit und Trost", sagt Christiane Kiese-Himmel von der Universität Göttingen. Fehlen die liebevollen Berührungen, können Kinder daran sterben. Zudem nimmt die Forscherin an, dass Babys mit den Eindrücken, die beim Betasten oder Ablutschen von Spielzeug entstehen, die Basis für abstrakte Konzepte und innere Bilder legen - und damit die Grundlage der Sprachentwicklung. Auch wenn Kiese-Himmel einräumt, dass ihre These noch nicht bewiesen sei, sprechen viele Indizien dafür. So weist zum Beispiel der Züricher Intelligenzforscher Rolf Pfeiffer darauf hin, dass Babys durch ihre größere Muskelanspannung fast jeden Gegenstand, den sie erwischen, in Richtung Mund bewegen. Dort liefern dann sowohl Hände als auch Lippen und Zunge Eindrücke, die das Gehirn zum Gesamtbild zusammensetzt. Die Bedeutung des Tastsinns für die intellektuelle Entwicklung belegen auch die Versuche der französischen Forscher Edouard Gentaz und Pascale Colé. Sie haben Fünfjährige darin trainiert, die Buchstaben a, i, r, t, p und b zu erkennen. Durften die Kinder die Buchstaben nicht nur ansehen, sondern auch Reliefmodelle von ihnen anfassen, lernten sie in der gleichen Zeit doppelt so viele Phantasiewörter wie "ita" oder "ari" zu lesen. Erst seit kurzem findet die Erforschung des Tastsinns auch das Interesse von Technikern: Designer verstehen, dass die Fingerspitzen etwa beim Autokauf mitreden. Entwickler ferngesteuerter Maschinen erkennen, dass sie den Menschen ein "Gefühl" dafür geben müssen, was sie auslösen - der Bagger oder das Skalpell müssen der Hand am Kontrollhebel zurückmelden, wenn sie auf Widerstand stoßen. Und Sicherheits-Experten glauben, sie könnten - etwa im Cockpit eines Flugzeugs - zuverlässig die Aufmerksamkeit des Piloten erringen, wenn sie etwas an seiner Hand oder in seinem Nacken vibrieren lassen. Der Tastsinn, so die gemeinsame Basis all dieser Ideen, eröffnet in der reizüberfluteten Welt einen Kommunikationskanal zum Hirn, der noch nicht verstopft ist.

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21.11.2023